Jul
Keine Angst, ich werde zu Anfang meines Schreibens nicht wieder unken, dass es diesmal gar nicht so viel zu berichten gibt … obwohl es jetzt gefĂŒhlt eigentlich so ist đ
Und auch zum eventuellen EntlaĂdatum 1. August will ich noch nicht viel schreiben, da wir erst nĂ€chste Woche die dazu klĂ€renden GesprĂ€che fĂŒhren werden. Wenn wir noch diesen einen Monat bekommen könnten, wĂ€re mir sehr viel wohler, denn dann wĂŒrde ihr „Umzug“ genau in unseren eingereichten Urlaub fallen und wir könnten uns sehr viel freier mit all den neuen UmstĂ€nden und abzuĂ€ndernden ZeitablĂ€ufen beschĂ€ftigen. Mal sehen, was geht …
Diese Woche haben wir mit dem Kind vorrangig die ersten beiden Punkte der im letzten Blogeintrag zusammenge-stellten Liste „Baustellen bei Stephanie“ beackert: die deutlichere Aussprache und das Bewegen der Arme, HĂ€nde und Beine. Sie hat auch immer ganz toll mitgemacht und sich selbst wie Bolle ĂŒber jedes noch so kleine Erfolgserlebnis gefreut.
Beim Sprechen zeigt sich immer wieder, was ich schon des Ăfteren hier erwĂ€hnt habe: je frĂŒher am Tag, desto besser die Aussprache, je spĂ€ter es wird, umso unverstĂ€ndlicher wird sie. Ihre Zunge scheint also von Stunde zu Stunde schwerer zu werden, was aber vielleicht auch daran liegt, dass man eben nicht tĂ€glich jede freie Minute mit ihr spricht bzw. sie sprechen lĂ€sst. Es ist echt erstaunlich, wie schnell bei einem Erwachsenen die Muskeln abbauen, wenn sie fĂŒr Wochen und Monate nicht so intensiv wie sonst genutzt werden und wie lange dann auch der anschlieĂende Aufbau wieder dauert.
Wir haben sie also immer wieder mal wĂ€hlen lassen, was wir als erstes wĂ€hrend unseres Besuches trainieren sollten und sie hat sich echt fĂŒr alle Dinge mal entschieden – es gibt also keine ĂŒberaus unbeliebte Ăbung. Fiel die Wahl auf den Mund, holten wir ein paar Aufgaben raus, die uns freundlicherweise die LogopĂ€dinnen fĂŒr unsere eigenen Ăbungszeiten zur VerfĂŒgung gestellt haben:
Dazu gehören z.B. die deutliche Artikulation von Silbenformationen, die bestimmte Bereiche im Mund oder auch die Zunge trainieren. Stephanie musste dann jede Zeile fĂŒnfmal wiederholen und nach drei bis vier Zeilen haben wir erst mal wieder ein „richtiges“ Wort genommen – sonst wird man ja völlig meschugge im Kopf đ
Bei den im deutschen Sprachgebrauch vorkommenden Wörtern (auch diese muss sie fĂŒnfmal hintereinander wiederholen) haben wir sie sie nicht nur laut und deutlich aussprechen lassen, sondern auch gleich mal nach der Bedeutung bzw. einer ErklĂ€rung gefragt. Manches ist vom Wort her aus ihrem GedĂ€chtnis futsch (Kurkuma, Salmiak), aber nach unserer ErklĂ€rung schien sie sich doch wohl wieder etwas zu erinnern (indisches GewĂŒrz und Bestandteil von Curry, Lakritzart). Andere Wörter kennt sie noch, aber es ist schwierig fĂŒr sie, diese auszusprechen (Lakritz, Praktikumsplatz). Und je schwerer die Zunge wird, desto schneller wird auch aus einem simplen Du ein Wu oder Bu, obwohl sie fest der Meinung ist, es richtig ausgesprochen zu haben. Zum GlĂŒck gibt es da ja die moderne Technik des Aufnehmens und Abspielens đ
Völlig baff aber waren wir, als wir mit ihr den Speiseplan fĂŒr die kommende Woche ausgefĂŒllt haben und sie sich an einem Tag umgehend und ohne Nachfrage fĂŒr Penne Funghi entschied. Das mussten wir natĂŒrlich hinterfragen:
„WeiĂt du was das ist ?“ ⊠„Ja.“
„OK, was sind Penne ?“ ⊠„Nudeln.“
„Und Funghi ?“ ⊠„Pilze.“
Wow, auf der einen Seite fehlen ihr die einfachsten Wörter und seit Wochen antwortet sie auf die Frage, wie denn die Katze macht mit „Wuff“, aber dann kennt sie die korrekte Bedeutung solcher Bezeichnungen … was geht bloĂ in diesem OberstĂŒbchen vor?!?!?
Beim Reden stellen wir auch immer wieder fest, dass sie manche Dinge trotz offensichtlich gestörtem Kurzzeit-gedĂ€chtnis hervorkramen kann, vieles aber innerhalb von Minuten vergisst. Noch finden wir nicht die kausalen ZusammenhĂ€nge, aber sie scheint was das angeht wirklich sehr selektiv zu sein. Was ihr wichtig ist, speichert sie sich sehr oft fest ab, alles andere wird gnadenlos ĂŒber Bord geworfen – blöd nur, wenn man schon gerne wissen wĂŒrden, was sie so gegessen hat oder in den Therapiestunden machen durfte. Ist ihr eben nicht sonderlich wichtig … aber SpaĂ machen ihr die Therapien, denn sie war gestern sehr enttĂ€uscht, dass sie am nĂ€chsten Tag (SO) keine haben wĂŒrde.
Kommen wir nun zu den Fingern bzw. HĂ€nden. Hier kann man eindeutig festhalten, dass sie aus dem Affekt und Spiel heraus förmlich ĂŒber sich hinauswachsen kann, doch wenn man sie um etwas Spezielles bittet, sie schon ein paar Probleme hat, manche ihrer Muskeln punktgenau zu steuern.
Beispiele sind hier die Fingerhaltung „Weltraumschnecke“ (bis Mittwoch schaffte sie nur die flache Hand, mittler-weile schon die erste Steuerung einzelner Finger) und die EinschrĂ€nkungen der linken Hand aufgrund ihrer Spastik (siehe das Bild weiter unten bei „Beispiel einer uneingeschrĂ€nkten Muskelkontraktion“ bzw. „Beispiel einer Spastik im Handgelenk“). Denn wenn man derzeit von ihr verlangt, die Finger dieser Hand auszustrecken, bleiben in der Regel ab dem Mittelfinger bis zum kleinen Finger diese weiterhin recht stark gebeugt. Aber mitten im Spiel konnten wir schon so manches Mal bei ihr beobachten, dass sie genau diese Finger sehr viel weiter gerade bekommt – sobald man sie aber darauf anspricht und sie sich darauf konzentrieren muss, nimmt die KrĂŒmmung wieder zu.
Auch das Strecken der HĂ€nde und Arme nach oben zeigt dieses PhĂ€nomen: mit rechts kommt sie bei geraden Armbeugen bis weit ĂŒber den Kopf und mit links noch angewinkelt so ca. auf Mundhöhe. Wenn man mir ihr jetzt aber etwas spielt und ihr z.B. einen Ball oder Stab in die Hand gibt, um diesen dann gaaaaanz Hoch zu bekommen, erreicht selbst Linki mittlerweile schon eine Höhe bis zum Scheitel (am Mittwoch war es noch Augenhöhe). Also verpacken wir immer sehr viel in Spielen und SpĂ€Ăen. Wir reichen uns GegenstĂ€nde im Kreis (Rechti wie Linki mĂŒssen dabei ran), sie muss sich zum Teil sehr weit nach oben oder vorne strecken, um uns diese aus den HĂ€nden nehmen zu können und wir lassen sie sich durchaus auch mal ganz weit nach vorne beugen, um die GegenstĂ€nde abzulegen oder dem nĂ€chsten zu geben. Aus dem Affekt heraus kann sie echt schon so viel!!!
Von einer Freundin bekam sie vor Kurzem Holzbauklötze geschenkt und wir können damit jetzt noch sehr viel mehr variieren, als mit den bisherigen fĂŒnf kleinen Steinen – vielen, lieben Dank an Stina:
Stephanie sortiert sie nach Form und GröĂe, sie stapelt sie so hoch sie kann (teilweise supervorsichtig, teilweise aber auch total unbeholfen), sie sucht diese mitunter auch etwas lĂ€nger auf dem Tisch oder wenn kleinere hinter gröĂeren Klötzen versteckt sind, sie dreht sie mittlerweile etwas in der Hand, um in eine bessere Ausgangsposition zu kommen oder sie gibt sich die Klötzchen von links nach rechts und umgekehrt. Insbesondere aufgrund der verschiedenen GröĂen muss sich Linki dabei zum Teil sehr anstrengen. Und wir mĂŒssen sie immer bremsen, wenn ihre rechte Hand der linken alles abnehmen möchte – Linki tut ihr sicherlich nicht mehr weh, aber in den letzten Wochen und Monaten war diese Hand nicht besonders gut zu gebrauchen und somit hat Stephanie fĂŒr sich beschlossen, dass Rechti immer das Zepter zu ĂŒbernehmen hat. Aber auch das werden wir sicherlich noch in den Griff bekommen.
Sehr oft suchen wir demnach auch Spiele und Situationen raus, bei denen sie beide HÀnde nutzen MUSS. Ein kleiner Ball ist locker mit einer Hand (also der rechten) zu kontrollieren und weiterzugeben, deshalb holen wir derzeit immer öfters den Volleyball aus dem Schrank:
Hier muss sie beim Weiterreichen von der einen Seite des Bettes zur Person auf der anderen Seite schlieĂlich beide HĂ€nde zur Hilfe nehmen … auch wenn Carsten ihr mittlerweile recht erfolgreich das Halten des Volleyballs mit nur der rechten Hand beigebracht hat (ĂŒben mit Gleichgewicht und KrĂ€fteeinteilung in den einzelnen Fingern) …
… vom Bett aufnehmen wird sie weiterhin nur beidhĂ€ndig machen können – Ă€tsch.
Als sie letzten Sonntag mit ihrem Besuch aus Miltitz drauĂen war, hat sie eine Leidenschaft und Freude fĂŒr das ZerreiĂen von BaumblĂ€ttern entdeckt und wir haben das nun ebenfalls ĂŒbernommen. Denn auch das geht schlieĂ-lich nur mit beiden HĂ€nden und mit etwas Fingerfertigkeit. FĂŒr BlĂ€tter vom Baum reicht es dicke und sie lacht sich dabei jedes Mal kaputt wenn es ritscht und ratscht, aber bei Papier hat sie den Dreh irgendwie noch nicht so ganz herausfinden können. Ăben, ĂŒben, ĂŒben …
Die letzten Geschichten werde ich nur mal aufzĂ€hlen und völlig unkommentiert im Raum sehen lassen – aber sie sind auf jeden Fall aus dieser Woche erwĂ€hnenswert:
- Am Montag hatte sie mal einen kleinen Depri-Tag („Ich kann nix“, „Ich bin schlecht“, etc.), aber den Rest der Woche war davon schon wieder nichts zu spĂŒren … da hat unser mentales Aufbauen also geholfen.
- Laut LogopĂ€din hat sie an einem Tag im Speisesaal mit einem Jungen ĂŒber das Anrichten von Nudeln philosophiert … PilzsoĂe, SahnesoĂe, TomatensoĂe, Bolognese etc.
- Am liebsten ist sie ohne Arm- und Beinorthesen sowie im Bett liegend. Zwar bietet der Rolli so manche Freiheit und auch die Sinnhaftigkeit der Orthesen ist ihr mehr als bewusst (sie sieht die Erfolge ja schlieĂlich selbst), aber nachdem wir sie wĂ€hrend der letzten Besuchsabende ins Bett geliftert und dann auch alle Orthesen entfernt haben, manifestierte sich bei ihr ein dickes, fettes Grinsen im Gesicht. So ist es fĂŒr sie doch am schönsten und bequemsten – ob mit uns oder alleine mit „Deluxe Music“ macht dann wieder keinen groĂen Unterschied. Doch wenn wir oder jemand anderes da sind, ist der Fernseher aus und sie genieĂt jede Minute mit ihrem Besuch.
- Aber trotz ihres gemĂŒtlichen Bettes, beantwortet sie die Frage des Pflegepersonals, ob sie lieber im Bett oder im Speiseraum essen möchte, auch immer wieder mal zu Gunsten des gemeinsamen Essens … auch wenn die Fragende sicherlich gehofft hat, dass sich das Kind fĂŒrs Bett entscheidet, damit sie nicht erst liftern mĂŒssen đ da scheint Stephanie also etwas anders gepolt zu sein, als andere Mitbewohner.
- Als sie in einem GesprÀch zwischen Pflegepersonal und mir mitbekommen hat, dass sie es mit dem Trinken schon fast bis zur Entfernung des PEG geschafft hat, leerte sie demonstrativ einen fast vollen Trinkbecher, mit nur dreimal von den Lippen abzusetzen.
- Wenn wir mit ihr auf Achse sind, unterhÀlt sie sich unterwegs auch immer wieder mal mit den Leuten die sie kennt, z.B. dem Personal der alten Station, den Therapeuten und anderen. Sie erkennt sie dann sogar ohne Maske.
- Ach ja, die Maske: wenn wir die Bremsen vom Rolli lösen und sie noch nicht ihren Mundschutz im Gesicht hat, macht sie einen darauf sofort aufmerksam – egal ob drinnen oder drauĂen. Sie macht definitiv keinen Meter durchs GebĂ€ude ohne Maske …
Ich habe auĂerdem das GefĂŒhl, dass Stephanies Streben nach EigenstĂ€ndigkeit und Bewegungsfreiheit von Tag zu Tag immer mehr zunimmt. Immer öfter wird aus ihrem âDas kann ich nichtâ am Ende doch die Verbesserung âDas kann ich NOCH nichtâ – anfangs korrigierte ich sie noch und nun korrigiert sie sich schon selber. Sie weiĂ eben auch, dass wir sie wo immer es geht, unterstĂŒtzen und begleiten werden – spĂ€testens bei den ersten Gehversuchen wird es wohl wieder sehr interessant sein. Dass âOhanaâ fĂŒr uns alle nicht nur ein Wort ist, das hat unsere Kleine mit Kampfgeist und starkem Willen jetzt sicherlich noch intensiver verinnerlicht als je zuvor.
Ich möchte mich zum Schluss auch bei euch allen dafĂŒr bedanken, dass ihr uns auf diesem nicht einfachen Weg immer begleitet, unterstĂŒtzt, anfeuert und fest an sie und uns glaubt! Das ist fĂŒr uns alle enorm wichtig!
Die letzten Kommentare