Aug
Diesmal möchte ich Stephanies Tage bei uns mit ein paar Fotos und etwas mehr Text beschreiben, um am Ende auch ein wenig den Vergleich zur Vergangenheit zu ziehen. Am Freitag feierten wir ja schlieĂlich schon ihren zweiten „Geburtstag 2.0“ – am 26. August 2020 passierte das, was wir nicht Unfall oder so Ă€hnlich, sondern „den Vorfall“ nennen. Wie ihr wisst, wurde sie damals auf dem Weg in die CharitĂ© insgesamt dreimal wiederbelebt (deshalb auch „Geburtstag 2.0“) und lag dann zunĂ€chst ein halbes Jahr im (Wach-)Koma. An meinem Geburtstag im November 2020 schenke sie mir ihr erstes, ganz kurzes Augenöffnen, um den Jahreswechsel herum schaffte sie damit ihre ersten 5 Minuten (jedoch ohne Fokussierung), im Februar 2021 war die Sedierung endlich aus dem Körper heraus und somit das (Wach-)Koma beendet, bis Ende Februar entledigte sie sich endgĂŒltig der Beatmungsmaschine und sogar in Rekordzeit des Tracheostomas, Anfang April hatten wir ein deutliches „Ja / Nein / vielleicht“ eingeĂŒbt und Ende April 2021 fing sie endlich wieder mit dem Essen an. An Sprechen war zu der Zeit noch nicht im Ansatz zu denken. Seitdem geht es glĂŒcklicherweise stetig aufwĂ€rts und da Stephanie von Anfang an immer sehr gut mitmachte und sich auch nie aufgegeben hat, konnten wir gemeinsam mit den Pflege-, Therapeuten- und Ărzteteams das erreichen, was ich euch bis heute jede Woche ausfĂŒhrlich beschreibe.
Und wo stehen wir jetzt im August 2022?
Stephanie ist weiterhin sehr daran interessiert, ihre FĂ€higkeiten noch mehr auszubauen und das, was sie bislang erreicht hat, zu festigen und zu optimieren. Eben Schrittchen fĂŒr Schrittchen zur SelbststĂ€ndigkeit.
Dazu gehört z.B. das Aufdecken des Esstisches:
Carsten und ich packen ihr alles auf den Rollitisch (wir nennen sie deshalb auch liebevoll „unser Packeselchen“), schieben sie mit dem Rollstuhl an den Esstisch und lassen sie in Reichweite ihrer Arme dann alles aufbauen. Beim FrĂŒhstĂŒck selbst mĂŒssen wir ihr tatsĂ€chlich nur noch wenig helfen, denn sie schĂŒttet sich alles selbst ein, schneidet und schmiert ihr Brötchen, löffelt ihre Auswahl an Salaten, die sie beim Einkaufen fĂŒr sich getroffen hat, aus den SchĂ€lchen und isst ohne fremde Hilfe ihre HĂ€lfte der Avocado. Vom FĂŒttern wie damals sind wir meilenweit entfernt … wir können uns aber noch sehr gut daran erinnern.
Bleiben wir mal beim Essen: sie hilft mir immer mehr bei den Zubereitungen in der KĂŒche und ich nutze jede Möglichkeit, um ihr dabei stets ein paar neue Handgriffe beizubringen. Am Sonntag musste sie z.B. neben Reiben einer Gurke u.a. auch Knoblauch zerdrĂŒcken und am Ende das selbstgemachte Tzatziki umrĂŒhren:
Hier ist sicherlich noch sehr viel Ăbung und Routine notwendig, aber die AnfĂ€nge passen und lassen stark hoffen. Auch beim Abtrocknen steuert Stephanie mittlerweile sehr viel mehr bei und sie hat zudem noch nie etwas fallen gelassen oder kaputt gemacht.
Machen wir mal vom Essen einen kleinen Schwenk zur Körperpflege, wo sie peu a peu ebenfalls immer mehr Aufgaben und Handgriffe ĂŒbernommen hat. Beim Baden wĂ€scht sie sich mit gelegentlicher Hilfe sogar fast schon den gesamten Körper … den RĂŒcken natĂŒrlich nicht   đ
Diese Woche haben wir ihr auch zum ersten Mal das Waschen der Haare gezeigt (Shampoo einmassieren, Wasser aufhebeln, Haare ausspĂŒlen, Wasser stoppen, PflegespĂŒlung einmassieren, Wasser aufhebeln, Haare erneut ausspĂŒlen und Wasser wieder stoppen) und schon beim zweiten Baden bestand meine Aufgabe gröĂtenteils nur noch darin, gelegentlich die Richtung der Brause zu korrigieren, um Ăberschwemmungen im Badezimmer zu vermeiden. NatĂŒrlich ist das vor allem ein ganz ganz groĂer Verdienst des Personals und der Therapeuten im Pflegezentrum, die diese Prozedur mit Stephanie schon seit Wochen und Monaten durchexerzieren, doch alles in Allem werten wir das Waschen in unserer Badewanne als einen weiteren Meilenstein auf ihrem Weg zur Genesung.
Und wo sie sich ganz besonders angestrengt hat, ist das Kennenlernen und die Benutzung ihres iPhones.
Carsten hatte wohl mal Ende des Jahres angepeilt, dass sie das Smartphone mit ins Pflegezentrum nehmen könne, doch sie ist jetzt schon so weit, dass heute der Mobilfunktarif (unter Beibehaltung ihrer alten Rufnummer) auf O2 umgestellt worden ist, da der Empfang damit in LĂŒneburg besser ist, als mit einem D-Netz.
Schon ab nĂ€chster Woche kann sie dann mit der Familie und ihren Freunden fast tĂ€glich in Verbindung bleiben – via WhatsApp, Telegram, Facebook-Messenger und sogar Mail, Telefon und SMS. Und sie könnte dann nicht nur bei uns in Wentorf, sondern jeden Tag im Browser „Wordle“ spielen … mittlerweile macht sie das sogar ganz erfolgreich auf Deutsch und Englisch!
Auch diese Entwicklung kann man sehr schön vergleichen:
Diese Bildchen aus Punkten, die anhand von Zahlen verbunden werden mĂŒssen, waren im Oktober 2021 noch sehr herausfordernd fĂŒr sie – sowohl das Verbinden der Punkte als auch das Erkennen des finalen Bildes. Am Samstag haben wir unsere alten Vordrucke wiedergefunden und ihr dann mal alle vorgelegt bzw. sie diese lösen lassen. Egal ob Birne, Schmetterling, Maus, Katze, Schneemann oder zwei Turteltauben, sie konnte alle ohne Probleme „malen“ und zum Abschluss das Motiv benennen. Dabei haben wir das schon seit Monaten nicht mehr geĂŒbt …
Neben solchen (spielerischen) Ăbungs- und Lernsituationen …
… werden aber auch immer wieder solche Ruhephasen zelebriert:
Dieses Wochenende hat sie aus ErinnerungsgrĂŒnden die ersten vier Folgen ihrer damaligen Lieblingsserie „Gravity Falls“ angeguckt … sie konnte sich zwar ein wenig an die Charaktere und das Intro, aber gar nicht an die Inhalte erinnern. Doch wie vor dem Vorfall fand sie Gefallen an dieser Comicserie (bei „SpongeBob“ ist das bis heute z.B. total anders) und sie wird sicherlich einmal bei uns Episode fĂŒr Episode durchgucken.
Und auch das haben wir in der letzten Woche zum ersten Mal ausprobiert:
Der Boden wurde mit Decken etwas ausgepolstert, sie mal von allen lĂ€stigen „Strippen befreit“ und dann sollte sie sich hin- und herbewegen, mal nach links rollen, mal nach rechts, mal auf den Bauch drehen und sich dann aber auch wieder aus dieser Lage befreien:
Wo sonst kann sie derzeit so frei und losgelöst einmal alle ExtremitĂ€ten bewegen und Muskeln entdecken, die bislang im Rolli oder im Bett gar nicht oder nur wenig beansprucht wurden? Es hat ihr echt ganz viel SpaĂ gemacht und ein paar Optimierungen beim Umdrehen im Bett konnten wir damit sogar auch schon erreichen. Jetzt muss sie nur noch lernen, wie man die Arme und Beine noch viel besser einsetzt und wobei Körperspannung immens hilfreich sein kann. Aber wir sollten immer im Hinterkopf behalten, dass Stephanie all das in Wochen oder Monaten lernt bzw. umsetzt, wozu wir als Kind teilweise Jahre zur VerfĂŒgung hatten.
Meine letzte Beschreibung gilt der ganz spontanen Aktion mit der Lerntherapeutin (vielen lieben Dank dafĂŒr!), welche mit Stephanie am Sonntagmittag einen sehr aufschlussreichen Neurofeedback-Test durchgefĂŒhrt hat.
Da mein Wissen in diesem Bereich sehr eingeschrÀnkt und oberflÀchlich ist, versuche ich eine ErklÀrung lieber mit Hilfe des Textes auf der Webseite der Lernpraxis:
„[…] Beim Neurofeedback werden Gehirnstromkurven (EEG-Wellen) analysiert. Durch visuell-akustische oder auch taktile RĂŒckkoppelung ist es möglich, abnorme GehirnwellenaktivitĂ€t zu verĂ€ndern und damit eine Verbesserung psychischer sowie physischer Symptome/Funktionen zu erreichen. […] Beim Neurofeedback werden Elektroden auf den Kopf geklebt, um dann die elektrische AktivitĂ€t des Gehirns mittels EEG (Elektroenzephalogramm) aufzuzeichnen. Diese EEG-Wellen (Rhythmen) geben in ganz bestimmter Weise Auskunft ĂŒber gewisse ZustĂ€nde und kognitive Prozesse im zentralen Nervensystem. […] Da das EEG-Bild noch kein Feedback als solches darstellen kann, wird auf einem Bildschirm z.B. ein Flugzeug gezeigt, welches sich entsprechend der VerĂ€nderungen der GehirnaktivitĂ€t bewegt. Aufgabe des Trainierenden ist es nun, das Flugzeug sinken oder steigen zu lassen. Die Methode besteht also darin, ein zielgerichtetes Verhalten zu verstĂ€rken, welches einer gĂŒnstigeren Zusammensetzung von Hirnwellen entspricht. […]“
Erste Erkenntnisse aus den bisher ermittelten Kurven (noch kein Flugzeug o.Ă€.) wurden schon besprochen und Stephanie konnte dadurch wieder etwas mehr ĂŒber sich und ihr (aus ihrer Sicht komisches) Verhalten lernen. Die Vertiefung zu diesem Thema wird die Lerntherapeutin mit unserem Kind dann individuell ausarbeiten – wir haben da vollstes Vertrauen und lassen die beiden frei entscheiden, wie sie weitermachen wollen. Sowas gehört schlieĂlich auch mit zur SelbststĂ€ndigkeit, oder ?
Die Zeit zwischen Mittwochabend und Sonntagabend verging jedenfalls wieder wie im Flug und gegen 19:00 haben wir uns im Pflegezentrum vom Kind verabschiedet:
Aber in zwei Tagen sind wir drei OLCAs ja schon wieder zusammen …
Die letzten Kommentare